Dieser Beitrag ist Teil des Projektes »EMCY – Enabling migrants to cycle«.
Das Projekt EMCY erforscht die Frage »Wie erreichen wir Migrant:innen?« anhand des Themas Radfahren im Alltag. Mit vielen Umfragen werden Migrant:innen wenig bis gar nicht erreicht. Bei EMCY kooperieren wir mit lokal verankerten Organisationen und führen die Befragungen im Rahmen von Workshops oder Radfahrkursen durch. Hier geben wir Einblicke in die Befragungen.
Ein Innenhof in der Kalvarienberggasse in Hernals, Wien, beim Verein PIR you are welcome. Tadej Brezina von der TU Wien und ich stehen mit Stadt- und Faltrad bereit – der praktische Teil des Workshops zum »Radfahren im Alltag« beginnt – nachdem alle Teilnehmer:innen unseren Fragebogen zum »Radfahren im Alltag« ausgefüllt haben. Die Gruppe, vorwiegend Frauen in ihren 30ern und einige Männer bilden einen Halbkreis vor uns. Wir erarbeiten die gesetzlich vorgeschriebenen Bestandteile eines Fahrrades, dass wir mitgebracht haben und lassen die Begriffe ans Fahrrad kleben. Ich frage: »Was fehlt noch? Was muss ein Fahrrad im Straßenverkehr haben?« – »Eine Klingel!« ruft jemand. Eine Teilnehmerin klebt den Begriff an die Klingel meines Stadtrads. Mit diesem Begriff sind alle gesetzlichen Vorgaben am Fahrrad sichtbar, damit die Polizei bei einer Kontrolle nichts beanstandet. Jetzt zeigen wir weitere Begriffe, die im Alltag nützlich sind.

Unsere gemeinsame Leitung – Mann und Frau auf Augenhöhe – erweist sich als kluge Wahl bei den gemischten Teilnehmer:innen. Sie spricht alle an.
Diese Frauen sind nicht zu stoppen
Schauplatzwechsel: Am Ufer der Neuen Donau, neben dem Motorikpark in der Donaustadt, dem 22. Wiener Gemeindebezirk, scheint die Sonne. Hier können wir kostenlos die Fahrräder der Mobilitätsagentur Wien für den Radfahrkurs nutzen. Die Frauen haben sich bereits im Schatten eines Baumes versammelt und sind schon gespannt auf den Radfahrkurs. Wir stellen das Projekt EMCY vor und verteilen auch hier unsere Fragebögen, um herauszufinden welches Verhältnis die Frauen zum Thema Radfahren im Alltag haben. Eigentlich wollen wir die Bögen gemeinsam durchgehen, doch die Frauen legen sofort los, so eifrig sind sie. Viele greifen zum arabischen Fragebogen, einige wählen die deutsche Version. Ihr Alter variiert, die 16 Frauen sind zwischen 31 und 60 Jahre alt. Dazu eingeladen hatten wir mit Fremde werden Freunde.
Dann übernehmen die Radfahrlehrer:innen von Schulterblick. Nach der Begrüßung schwingen sich die Frauen voller Eifer auf die Räder. Selbst jene, die kaum oder gar nicht fahren können, wagen es sofort. Ein Schwerpunkt von Schulterblick – Die Radfahrschule sind Radfahrkurse für Volksschulklassen. Die Kinder sind oft begeistert, doch heute übertreffen die Frauen alles. So viel Einsatz haben die Radfahrlehrer:innen selten erlebt. Als sie Pausen vorschlagen, lehnen die Frauen ab. Eine kurze Verschnaufpause auf dem Rad reicht ihnen – trotz der fast drückenden Hitze.


In der Abschlussrunde fragen die Radfahrlehrer:innen: »Wer möchte weiter Radfahren lernen?« Fast alle Hände schnellen in die Höhe. Eine Frau beschließt noch während des Radfahrkurses, sich am nächsten Tag ein Fahrrad zu kaufen. Die Begeisterung ist so groß wie ihre Dankbarkeit, die sie uns entgegenbringen. Am Rand beobachtet eine Frau mit Rollator den Kurs. Sie kennt viele Teilnehmerinnen und füllt ebenfalls unseren Fragebogen aus. Ihr Deutsch ist gut, und sie möchte Radfahren lernen – allerdings bräuchte sie dafür ein Vierrad oder ein mehrspuriges Fahrrad.
Andere Frauen berichten über Hindernisse
Schauplatzwechsel: Zweiter Bezirk, Verein Piramidops Frauentreff. Ich sitze im Erdgeschosslokal, umgeben von Frauen aus Afghanistan. Gemeinsam füllen wir den Fragebogen auf Farsi aus. Auch die arabische Version liegt bereit. Die meisten Frauen sprechen Dari als Erstsprache, zwei wuchsen mit Paschto auf – beide Sprachen gelten als Amtssprachen in Afghanistan. In den 60er Jahren benannte man Farsi, auch bekannt als Persisch, in Afghanistan in Dari um.
Fast alle Frauen wollen gern einen Radfahrkurs machen, wenn es einen gibt. Piramidops soll Radfahrkurse bekannt geben, die Frauen wollen nicht direkt kontaktiert werden. Nach dem Ausfüllen des Fragebogens sprechen wir über das Radfahren. Amina, die Kursleiterin, übersetzt. »Habt ihr als Kinder Radfahren gelernt?«, frage ich. Viele nicken – bis zum Alter von sieben Jahren durften sie fahren, dann war es ihnen als Mädchen verboten. Nun zögert Amina, bevor sie das übersetzt. Es ist ihr unangenehm, sie schämt sich: Eine der Frauen erzählt, ihre Mutter habe ihr immer gesagt, sie verliere ihre Unschuld, wenn sie Rad fährt.
Die Frauen erzählen weiter, dass derzeit in Afghanistan keine Mädchen zur Schule gehen – die Taliban herrschen. Früher, berichten die Frauen, besuchten sie teils die Schule. Teils konnten sie nicht, weil familiäre Pflichten sie davon abhielten: Sie mussten sich um die Familie kümmern oder lebten auf dem Land, wo es teils keine Schulen gab.
Wir danken unseren Kooperationspartner:innen:
dem Verein Piramidops/Frauentreff in der Leopoldstadt, der uns ermöglichte,
unsere Befragung im Rahmen der Basisbildungskurse von LevelUp durchzuführen.
Ebenso danken wir dem Verein you-are-welcome / PIR in Hernals und Fremde werden Freunde mit denen wir zum Radfahrkurs einluden, den Schulterblick – Die Radfahrschule im
Auftrag von EMCY durchführte. Und wir danken der Mobilitätsagentur Wien, dafür das wir die Fahrräder vor Ort kostenlos für den Radfahrkurs nutzen konnten.
Dieses Projekt wird aus Mitteln der FFG gefördert. www.ffg.at

Autorin: Beatrice Stude
Fotos von Helen Vaaks und Beatrice Stude.