Umfeld: Mobilität

Dieser Beitrag ist Teil des Projektes »EMCY – Enabling migrants to cycle«.

Die Befragungen vom Projekt EMCY zu Hürden im Radverkehr für Migrant:innen sind gestartet. Wir geben erste Einblicke – auch ins Forschungsdesign und die Hintergrundrecherche.

Ich sitze im Erdgeschosslokal von Piramidops/Frauentreff am Volkerplatz in der Leopoldstadt. Die acht Frauen um mich scherzen, während sie zum Radverkehr befragt werden. Ich höre zu, lächle und beantworte gelegentlich Fragen der Kursleiterin Nazan. Sie lehrt den Frauen Lesen und Schreiben auf Deutsch. Oft verstehe ich nichts, denn sie besprechen den Fragenbogen auf Türkisch. Ich folge dabei mit dem Fragebogen auf Deutsch: Die Kursleiterin Nazan fragt gerade, wer Interesse an einem Radfahrkurs hat. Eine Hand geht hoch, die Frau lächelt verschmitzt.

Die anderen Frauen haben dazu eine Frage, Nazan übersetzt für mich: »Geht auch ein Kurs mit Dreirädern, damit man nicht umfällt?« Letztes Jahr klappte das Radfahren im Radfahrkurs für einige nicht so gut, sie sind mit dem Rad umgefallen, erklärt Nazan. »Ja, ich kann versuchen einen Radfahrkurs mit Dreirädern zu organisieren – Versprechen kann ich jedoch nichts.« Nun heben sechs von acht Frauen die Hand. Eine Frau kommt jetzt verspätet zum Kurs hinzu und möchte auch mitmachen.

Fünf Frauen sind über 60, drei über 50. Die Hälfte wohnt in der Leopoldstadt, die anderen in den Nachbarbezirken. Alle tragen Kopftücher. Sie könnten das Stadtbild prägen, wenn sie ihre Alltagswege mit Dreirädern oder Lastenrädern zurücklegten – und weitere Menschen zum Radfahren animieren. Der 2. und 20. Bezirk ist gut zum Radfahren, erklärt mir abschließend eine der Frauen auf Deutsch.

Wien: Leih-Fahrräder, Grün und Mobilitätsverhalten

In Wien stehen 41 Grätzlräder, also Transporträder, zur Ausleihe bereit. Davon sind 40 Prozent mehrspurig, zwei davon in der Leopoldstadt, keine in Brigittenau. Zusätzlich bietet Wien an 241 Wienmobil-Stationen 4.141 Leih-Fahrräder an. Zehn Prozent dieser Räder kann man in Brigittenau und der Leopoldstadt mieten. Die Ausleihe kostet 35 Cent pro halbe Stunde. Abonnements mit Rabatten gibt es für Inhaber:innen von Jahreskarten oder Klimatickets.

2024 besitzt jede zweite Person in Wien ein Dauerticket für die Wiener Linien, während nur jede:r dritte Wiener:in ein Auto angemeldet hat. Die Zahl der Führerscheinneulinge sinkt: 2023 erwarb in Brigittenau und Leopoldstadt nur jede:r Zwanzigste der 17-Jährigen einen Führerschein. In Hietzing, wo der Anteil am höchsten ist, war es jede:r Sechste. Im Wiener Umland ist es jede:r Zweite oder Dritte.

Rhein-Main-Gebiet: Die Analyse machte die Unterschiede in der Mobilität von Migranten zwischen städtischem und ländlichem Raum, aber auch zwischen den Geschlechtern deutlich. Das Auto als Verkehrsmittel spielt keine Rolle, der ÖPNV verliert an Bedeutung je peripherer die Wohnsituation der Migranten. Fahrradfahren und das Zufußgehen sind wichtige Fortbewegungsarten für die tägliche Mobilität. (Geis, I., 2017)
Offenbach am Main: Tendenziell nutzen Migranten den öffentlichen Verkehr häufiger als Nichtmigranten. Bei der regelmäßigen Fahrradnutzung unterscheiden sich die Migranten von den anderen Befragten, indem sie das Fahrrad seltener nutzen. Männer ohne Migrationshintergrund sind am häufigsten, Migrantinnen am seltensten mit dem Rad unterwegs. (Welsch, J., et al., 2014)
Österreich: Als eines der wesentlichen Ergebnisse zeigt sich die klare Tendenz, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund seltener das Auto (oder das Motorrad) benutzt und zwar unabhängig vom Alter, Geschlecht, der Schulbildung, dem Wohnort und der Aufenthaltsdauer. Im Gegenzug erweisen sich die Befragten mit Migrationshintergrund als Personen mit einer erhöhten Nutzungsaffinität gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln. (Fassmann, H., et al., 2014)

Viele Migrantinnen besitzen kein Auto, wie eine Literaturrecherche im Projekt zeigt und erste Auswertungen der Fragebögen bestätigen. Migrant:innen gehen zu Fuß und nutzen die Öffis. Laut Wiener Linien nutzten 2024 fast ein Drittel aller Menschen in Wien die Öffis, während der Anteil der Autofahrten auf ein Viertel sank. Der Radverkehr stieg leicht auf 11 Prozent, also wird jeder zehnte Weg mit dem Fahrrad zurückgelegt.

Hier stellt sich die Frage: Würden Maßnahmen für Öffis, fürs Zu-Fuß-Gehen und fürs Radfahren mehr Zuspruch finden, wenn man Migrant:innen stärker einbindet?

Die Leopoldstadt ist sehr grün mit 51 Quadratmetern Grünfläche pro Einwohner:in. In der Brigittenau sind es sechs Quadratmeter, in Simmering im Südosten der Stadt 17 Quadratmeter (Quelle: Alex). Zudem gibt es in der Leopoldstadt … Kilometer sichere Radwege, dazu zählen Geh-und Radwege, Mehrzweckstreifen und Begegnungszonen. In der Brigittenau … und in Simmering … Kilometer (Daten: Alex).

Ein Platz in der Macondosiedling in Simmering, wie er auch in neuen Stadtquartieren sein könnte – nur das Café am Eck fehlt. Kinder radeln und rollern kreuz und quer. Ich sitze mit einer Frau und fülle unseren Fragebogen aus, der auf Somalisch verfasst ist. Daneben liegt die deutsche Version, damit ich weiß, was ich sage. Wir unterhalten uns gut auf Deutsch, doch der Fragebogen in ihrer Muttersprache erleichtert das Verstehen.

Ihre Tochter und andere Mädchen schauen immer wieder neugierig herüber und rollern oder radeln um uns herum. Als wir fertig sind, umringen mich vier Mädchen und reden gleichzeitig auf mich ein: Auf Deutsch und auf Somalisch, letzteres vermute ich. Die Atmosphäre ist entspannt und ihre ungehemmte Offenheit mir gegenüber empfinde ich als herzig.

Es ist ein Freitag und wir haben einen Radmechaniker mitgebracht, der versucht, die Fahrräder zu reparieren. Am Mittwoch waren wir bereits vor Ort. Der örtliche Jugendtreff hatte die Aktion organisiert: Jugendliche reparieren gemeinsam Fahrräder. Heute sind wir wieder mit dabei – mit Profi und Fragebögen. Die Kinder und Erwachsenen kommen mit ihren Fahrrädern und stellen sich an, die Jugendlichen reparieren gemeinsam mit dem Jugendtreff-Betreuern. Auch Roller und Kinderwagenräder werden repariert. Währenddessen befragen wir die Menschen und erfahren: Viele werden zum ersten Mal interviewt – sie sind neugierig und lassen sich gern darauf ein.

Forschungsdesign, Bedürfnisse und Hürden

Wie erreicht man Migrant:innen? Die Literaturanalyse lieferte Erkenntnisse und praktische Hinweise für unser Forschungsdesign: wie den Zugang zur Befragung niedrigschwellig zu gestalten, den Fragebogen vorab auf Verständlichkeit zu prüfen und mit lokalen Organisationen zu kooperieren, um die Zielgruppe besser zu erreichen.

Eine zentrale Hürde bleibt: Migrant:innen werden in der Verkehrsinfrastrukturplanung kaum einbezogen. Bürgerbeteiligungsformate erreichen meist gut vernetzte Gruppen, während einkommensschwache Migrant:innen oft außen vor bleiben. Das zeigt sich auch bei der politischen Teilhabe: In Wien sinkt der Anteil der Wahlberechtigten seit Jahren. In Simmering darf jede:r Dritte nicht an Bürgermeisterwahlen teilnehmen, in Leopoldstadt und Brigittenau ist es ähnlich. In Hietzing trifft dies nur auf jede:n Vierte:n oder Fünfte:n zu.

Die Literatur nennt weitere Hindernisse, beispielsweise in Canada, den USA und Großbritannien: aggressives Verhalten oder rassistische Übergriffe im Straßenverkehr – gegen radfahrende Migrant:innen, die auf Farmen arbeiten. Die Ausgrenzung im Verkehr ist nicht zufällig und untermauert bestehende Machthierarchien in Bezug auf Ethnie, Staatsbürgerschaft und Klasse sowie strukturelle Arbeitsausbeutung.

Auch »Racial Profiling« durch die Polizei, die Menschen allein aufgrund äußerer Merkmale kontrolliert, wird als Problem beschrieben: Migrant:innen und People of Colour werden häufiger für das Radfahren am Gehsteig oder Überfahren von roten Ampeln bestraft – mit teils verheerenden Folgen für Menschen ohne Papiere. Dies verdeutlicht, wie »Crimmigration« – die gezielte Vermischung von Straf- und Einwanderungsrecht, um Migrant:innen zu kriminalisieren und durch Haft oder Abschiebung loszuwerden – selbst im Alltag sichtbar wird.

Transportation exclusions are not incidental – they buttress existing race, citizenship, and class power hierarchies and systems of labour exploitation.[...] Bike safety projects for migrants focus on individual behaviour change and the inculcation of rules and habits. Under this rationale, if migrants knew and followed proper rules and modified their behaviour they would be safer. Bike safety projects demand that racialized migrant subjects make themselves visible in places where racial aggression directed at migrants is routine. Bike safety projects fail to broach issues of worker rights. (Reid-Musson, E., 2018)
Perceptions and experiences of safety are also racialised. [...] In North America and increasingly in the UK, immigrants and people of colour are disproportionately stopped for cycling offences, such as pavement riding or running red lights, which can have disastrous consequences for migrants without documentation. This exemplifies how “crimmigration”, the convergence of criminal and immigration law to target, criminalise and dispose of migrants through harsh detentions and deportations, manifests in cycling. (Lam, T., 2022)

Am ersten Tag in der Macondo-Siedlung in Simmering drehen wir – eine Studentin und ich – eine Runde durchs Quartier, um weitere Erwachsene anzusprechen. Auf einer Parkbank entdecken wir eine blonde Frau mit heller Haut. Unser erster Impuls: Sie nicht befragen, da unser Fokus auf Migrant:innen liegt. Doch gleich darauf der zweite Gedanke: Wir haben uns vorgenommen, alle zu befragen, die mitmachen möchten – ohne nach äußeren Merkmalen auszusortieren.

Wir sprechen sie an und stellen fest, die blonde Frau ist Ukrainerin – und damit Teil unserer Zielgruppe im Projekt: Bewohner:innen Wiens, die von Ländern außerhalb der EU von 1995 zugewandert sind. Ein Aha-Erlebnis.


Wir danken unseren Kooperationspartnern:
dem Verein Piramidops/Frauentreff in der Leopoldstadt, der uns ermöglichte,
unsere Befragung im Rahmen der Basisbildungskurse von LevelUp durchzuführen.
Ebenso danken wir dem IBZ Diakonie Zinnergasse und
dem Siedlungstreff Leberberg in Simmering,
mit denen wir zwei Abende lang Radreparaturen gestalteten
und unsere Befragung durchführten.


Dieses Projekt wird aus Mitteln der FFG gefördert. www.ffg.at


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